Von Rochus Lussi, 25. Juni 2022
Zürich, Seefeldstrasse 52, November 2020. Mirjam Sennhauser sichtet in der Galerie Jedlitschka ein Rudel Wölfe, neun an der Zahl. Sie begegnet fünf Big Teddys – Abfallsäcken – und einer Vielzahl von Rotkäppchen sowie ungefähr 150 Panini – einzelnen Frauenbrüsten, «Agathabrötchen», inspiriert von der Hl. Agatha. Dann sieht sie zehn lebensgrosse Hörner von Kuh, Steinbock, Busch- und Wüstenbock und fünf Kopfkissen, alle Objekte in Holz geschaffen, wie Trophäen oder gar Ikonen der Nacht an der Wand hängend.
Es hängen buchstäblich Fragen in der Luft zu dieser Kunst, die formal gegenständlich geschaffen ist, durchaus ästhetisch, aber mit vielen Geschichten beladen.
Was macht ein Objekt zur Kunst?
Was ist Kunst? Was ist die allgemeine Definition und Funktion von Kunst in der Gesellschaft?
Ich kann Ihnen auf diese Frage eine Antwort geben – aber ich sage Ihnen: das wird eine Rochus-Antwort sein, subjektiv und irrelevant; denn es gibt darauf auch eine Ruedi-Antwort, eine Mirjam-Antwort, eine Andreas-Antwort, eine Harald Szeemann-Antwort, eine Nathalie-Antwort oder eine Beuys-Antwort: Jede Frau, jeder Mann ist eine Künstlerin, ein Künstler.
Was also ist Kunst – für mich?
Vor eine mögliche Antwort stellen sich Fragen wie die folgenden:
Soll Kunst gefallen? Soll Kunst dekorativ sein? Soll Kunst abstrakt, pervers oder surreal sein? Soll Kunst Vakuum auslösen oder ratlos machen? Soll Kunst makaber sein, damit sie ankommt? Muss sich Kunst mit Politik, Religion oder mit sozialkritischen Fragen beschäftigen? Soll sich Kunst aus historischen Geschichten nähren? Muss Kunst überhaupt Fragen aufwerfen?
Vor dreissig Jahren, als ich mit Kunst begonnen habe, meinte ich – naiv wie ich war – mit meiner Kunst die Welt verändern zu können. Aber das tut sie nicht, das kann sie nicht, das hat auch noch keine Künstlerin und kein Künstler geschafft. Die Kunst soll nicht verändern, sie soll IN FRAGE STELLEN.
Für mich soll Kunst zum Stehenbleiben auffordern, Ratlosigkeit auslösen und irritieren. Fertig.
Kunst ist nicht nice to have. Aber wenn sie es ist, dann ist sie für mich wertlos. So etwas erhalten wir auch günstig bei Hornbach. Fertig.
Für mich ist Kunst ein Gefühlszustand, der sich mit der Künstlerin, dem Künstler verschmilzt – und es wäre schön, wenn sie das auch mit der Betrachterin, dem Betrachter täte.
Ich darf Ihnen versichern: Kunst ist ein unendliches Privileg.
Haben Sie die Ateliers nebenan besucht? Scheuen Sie sich nicht, mit den Schaffenden in Kontakt zu treten. Sie beissen nicht, sie sind ganz normale Menschen – fast normal. Sie sind nahbar wie ihre Kunst sinnhaft ist und sie sind immer intensiv ehrlich.
Was hat nun Kunst mit Kunstmarkt zu tun? Was ist mit der Kunst, die teuer gehandelt wird? Denken wir an die drei Meter hohe Spinne von Louise Bourgeois. Sie wurde an der ART für 40 Millionen Franken verkauft. Ist das darum bessere Kunst?
Ich liebe die Arbeiten dieser Künstlerin sehr. Aber ich bin nicht sicher, was sie zu diesem Handel sagen würde. Vielleicht drehte sie sich im Grabe um oder sie bekäme einen ihrer gelegentlichen Wutanfälle, würde sie noch unter uns weilen. Der Kunsthandel hat nichts mit dem Werk an sich zu tun. Entscheidend ist, im richtigen Augenblick am richtigen Ort zu sein, die richtigen Leute zu treffen, glückhafte Beziehungen zu haben oder einen reichen Götti. Sind wir ehrlich: alle träumen wir vom grossen Kunstverkauf. Und selbstverständlich lebt unsere Kunst-Leidenschaft teilweise davon. Aber das hat nichts mit dem Kunsthandel zu tun und, um es nochmals zu betonen: der erzielte Preis sagt nicht viel über die Qualität des Werkes aus.
In Stans, Nidwalden, wo ich lebe und arbeite, fahre ich jeden Morgen um 6 Uhr 45 ins Atelier. Meinen Sie, die Leute, die mich dann sehen, halten mich für einen Künstler?
Vergessen Sie es. Diese Leute wissen nicht, was ich tue. Vielleicht denken sie: der ist verrückt. Oder: der ist vielleicht Sanitärinstallateur, Lehrer oder Schreiner… aber ein Künstler? morgens um Viertel vor Sieben?
Eine Künstlerin, ein Künstler hat jeder Sparte der Gesellschaft durchaus etwas zu sagen. Das haben wir während der Pandemie erlebt: Da fehlte es an Kunst und Kultur und plötzlich gab es da ein Vakuum, nichts mehr.
Soweit mein kleiner Bogen über Kunst.
Anscheinend sind meine Arbeiten, die Mirjam in Zürich gesehen hat, nicht spurlos an ihr vorbeigegangen – oder umgekehrt: Mirjam nicht an ihnen. Diese Werke aus Holz, in Farbe gefasst, haben anscheinend Spuren bei dieser umtriebigen Frau hinterlassen. Wenig später erhalte ich in meinem Atelier einen Anruf von dieser begeisterten und nicht minder begeisterungsfähigen Frau und innert weniger Minuten unterhalten wir uns über Themen meiner Arbeit. Verletzbarkeit und Wehrhaftigkeit, die Frage nach Täter und Opfer, das Pendel zwischen Masse und Individuum und dass diese Arbeiten unter die Haut gehen können, lässt Mirjam aufhorchen und sie findet, sie würde mir gerne ihr Projekt «Paradiesgärtli» vorstellen.
Ehrlich gesagt dachte ich mir, dass ein «Paradiesgärtli» nicht wirklich viel mit meinen eher schweren Themen zu tun haben kann. In einem Paradiesgärtli möchte ich mich mit allen Sinnen wohlfühlen, ich würde alle Viere von mir strecken, Honig und Wein fänden direkt den Weg in meinen Schlund. Obwohl: «Dünnhäutigkeit», von der ich in meinen Arbeiten erzähle, trägt doch auch die Qualität von Sensibilität in sich. Sich im Paradies fühlen, hat sehr wohl mit diesem Thema zu tun, wenn ich die Geschichte um die Begegnung von Mirjam mit meiner Kunst und mit mir und um mich im Paradiesgärtli in Steinmaur vielleicht etwas überhitzen möchte.
Nach jenem langen Telefonat schickte mir Mirjam das gefühlt 50-seitige Projekt-Dossier. Beim Lesen packte mich Begeisterung, so fest, dass ich zuerst wieder ein, zwei Promille runterkommen musste.
Bald darauf führt mich Mirjam durch dieses Paradies. Sie zeigt mir die Ateliers des Skulpturenparks und lässt ihren Träumen freien Lauf – eben wie im Paradies. Sie zeichnet aber auch das Bild eines fragilen Ortes, erwähnt die Themen, über die sie mit den Behörden debattieren muss – um nicht «streiten» zu sagen. Alles gehe zu langsam voran und sie fühle sich immer mal wieder missverstanden.
Warum stecke ich da plötzlich mitten drin? Mirjam erklärt mir, dass sie mich als eine Art Querdenker sieht und dass sie möchte, dass ich mit meiner Erfahrung und aus einer gewissen Distanz zu diesem Ort frei meine Meinung äussere. Das würde sie in ihrem Prozess unterstützen. OK.
Mit fortschreitender Stunde und zunehmend fiebrigem Tatendrang realisiere ich, worum es in diesem Projekt geht. Da ist einerseits der Ort, die eingeschlummerte Besenbeiz, die wiedergeboren werden soll. Da ist auch die präsente Kunst von Beat Kohlbrenner und die ungelösten Besitzverhältnisse. Zugleich geht es in diesem Projekt auch um neue Kunst, um Schaffen und Beleben des Ortes, das Mirjam am Herzen liegt.
Ihre Äusserungen über mögliche Kunstausstellungen in Zusammenarbeit mit dem Verein Ateliers und Skulpturenpark machen mich hellhörig und ich erzähle ihr von meiner Tätigkeit in einem Künstlerischen Beirat der Kunsthalle Luzern. Eine solche Institution zu besitzen und zu leiten und gleichzeitig inhaltlich um die künstlerische Qualität besorgt zu sein, bedeutet einen Spagat zu machen und immense Arbeit.
Wenn die Institution Paradiesgärtli sowohl Ausstellungen organisieren als auch Raum für «Artist in Residence» – eine weitere Idee von Mirjam – ermöglichen will, dann müssen in meinen Augen eine temporäre Kuratorin oder ein Kurator und ein Künstlerischer Beirat eingesetzt werden. Damit könnte neuer künstlerischer Wind im Paradiesgärtli Einzug halten und die Verbindung mit den Künstlern der Ateliers Skulpturengarten gefestigt werden.
Ein Künstlerischer Beirat würde weder kuratieren noch organisatorische Arbeit übernehmen. Seine Aufgabe wäre es, beratend mit Mirjam die Realisierbarkeit und ökonomische Aspekte einer Ausstellung zu überwachen.
Mirjam hat damit den Beirat im Nebenan und kann ihn bei Unsicherheit in ihrer Arbeit erfragen.
Ausserdem verfügen die Mitglieder des Beirates über viele Kontakte zu Künstlerinnen und Künstlern, die professionell arbeiten. Das könnte allenfalls in die Kuration einfliessen. Mirjam und ich sind uns einig, dass eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen dem Paradiesgärtli und dem Verein Ateliers unabdingbar ist. Damit werden Energien und Ressourcen gefördert.
Sie organisierte in Zürich ein erstes Treffen mit Ruedi Mösch und Adrian Büttikofer, zwei Künstler vom Verein Ateliers und Skulpturengarten. Sie wollte deren Meinungen über eine Zusammenarbeit vernehmen. Beide äusserten sich im Namen der Ateliers sehr positiv. Auch die Idee eines künstlerischen Beirates begrüssten sie und wollten gerne auch darin vertreten sein.
An einem weiteren Treffen im Atelier von Ruedi Mösch begrüssten wir Tanja Laeri. Die Künstlerin, Architektin und selbstständige Hochbauzeichnerin ist ebenfalls bereit, ihre Kompetenzen im Beirat einzubringen. Damit ist der künstlerische Beirat breit abgestützt und kann Mirjam beratend zur Seite stehen.
Was mir am Paradiesgärtli so unglaublich gefällt: in diesem Umfeld, eben in diesem Paradies sprechen Kunst und Kultur jegliche Sinne an. Es wird nicht in irgend- einem Atelier Kunst gefertigt. Diese Atmosphäre ist einmalig. Es findet nicht irgendeine «Landart»-Ausstellung statt, sondern die «Landart» lebt hier. Sie verwächst, verschmilzt mit der Topografie dieser Natur, dem Wald und alles wird zum Kunstwerk.
Wenn ich damit nochmals auf die Frage zurückkomme, was denn eine mögliche Definition und Funktion von Kunst in der Gesellschaft sein könnte, dann kann ich Mirjam jetzt nur sagen: was Du hier bereitest, das ist Kunst in der Gesellschaft! Mit Haut und Haar, mit allen Sinnen begegnen und erleben wir hier qualitatives Schaffen. Damit sind meine Ansprüche an Kunst erfüllt: ein Abdriften in Utopien, um damit die Welt zu hinterfragen und sich selber, damit die daraus resultierende Kunst unter die Haut gehen darf.
Ein eindrückliches Beispiel dafür ist die laufende Ausstellung, mit der uns der Verein Ateliers beschenkt. Ich lege Euch einen Rundgang durch diese Arbeiten ans Herz.
Was wir in dieser Woche an Kunst und Kultur erleben dürfen, ist eine wahre Freude. Das geht auf keine Kuhhaut, wie man zu sagen pflegt.
Ich meinerseits danke Dir, Mirjam, für Deine unermüdliche Arbeit um Dein Projekt und ich wünsche Dir und all Deinen Lieben viel Durchhaltewillen, aber auch Besonnenheit. Und wenn es dann heisst: «da geht es zu und her wie im hölzernen Himmel!», dann sind das schlicht die paradiesischen Zustände.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen einen frohen Abend.
Erwähnte Werke und Ausstellung von Rochus Lussi
Werke:
Ereignisse [Wölfe], 2020, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, je ca. 90 x 80 x 90 cm.
Trophäen, 2020, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, unterschiedliche Masse, ca. 35 x 8 x 8 cm.
Rotkäppchen, 2015, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, je 40 x 25 x 5 cm.
Big Teddy, 2019, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, je 80 x 80 x 80 cm.
Spuren, 2019, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, je 55 x 40 x 18 cm.
Panini (Agathabrötchen), 2020, Holz in Farbe gefasst, mehrteilig, je 10 x 10 x 10 cm.
Ausstellung:
Rochus Lussi, Im Schafspelz. Objektgruppen in Holz, Jedlitschka Gallery, Seefeldstrasse 52, 8008 Zürich, Vernissage am 12. 11. 2020.
Websites: